Ornis - Das Leben der Vögel
Josef H. Reichholf
Gebunden, 262 Seiten, Format: 22 cm x 14,5 cm
2014, Verlag C.H. Beck
ISBN 978-3-406-66048-1
Preis: 19,95 Euro
Über das Buch
Das Buch "Ornis - Das Leben der Vögel" befasst sich mit dem Leben der Vögel - so lautet schließlich sein Titel. Aber dieses Buch enthält noch viel mehr. Es geht nicht nur um die Natur der Vögel und deren Eigenschaften, die sie von allen anderen Lebewesen unterscheiden.
Reichholf schreibt auch ein persönliches Buch, in dem er seiner Meinung breiten Raum gibt. Man lernt nicht nur viel über Vögel, man lernt Prof. Dr. Josef H. Reichholf auch als Menschen kennen. Mit seinen Ansichten, mit seinen Überzeugungen und mit den Werten, für die er kämpft.
Dies macht aus dem Buch weit mehr als ein Sach- und Fachbuch. Es ist zugleich ein politisches und gesellschaftskritisches Werk. Dinge werden hinterfragt und vermeintlich Selbstverständliches von ganz anderer Seite beleuchtet. Diese Vielfalt macht das Buch abwechslungsreich wie anspruchsvoll. Und für den Rezensenten ist es gar nicht so einfach kurz darzustellen, was den Leser alles erwartet. Versucht wird es hier trotzdem – mit vorangestelltem Hinweis, dass dieses Buch eine deutliche Kaufempfehlung wert ist!
Was sagt Reichholf zur Fütterung von Wildvögeln?
Da es auf dieser Webseite um Vogelhäuser und Vogelfütterung geht, ist natürlich besonders interessant, welche Meinung der Experte Reichholf zum Thema Vogelfütterung hat. Der Ornithologe, der unter anderem an der Universität München lehrte, spricht sich klar für eine Fütterung von Wildvögel aus, und zwar nicht nur im Winter.
Denn in der kalten Jahreszeit herrscht oft Futtermangel, und zwar nicht nur bei Frost und Schnee, wie Reichholf betont. Sogar im Frühjahr ist es sinnvoll, weiterhin zu füttern, damit die Vögel in guter Verfassung in die Brutzeit kommen. Für seine Auffassung liefert er auch direkt die Begründung: Das Leben der Vögel läuft energetisch sehr aufwändig ab. Sie haben eine hohe Körpertemperatur von um die 40 Grad und sind zudem keine guten Futterverwerter. Weiter sind sie auch nicht in der Lage, ihren Stoffwechsel herunter zu fahren und weniger Energie zu verbrauchen. So etwas wie Winterschlaf kennen die Vögel nicht. Daraus folgt, dass Vögel beständig sehr viel Energie und damit viel Nahrung brauchen.
Insgesamt vertritt hier Reichholf dieselbe Auffassung wie Peter Berthold und Gabriele Mohr in ihrem Buch Vögel füttern, aber richtig, die sich dort sogar für eine Ganzjahresfütterung aussprechen. Wenn man sich an die dort gegebene Anleitung hält, macht man in jedem Fall nichts falsch.
Vielfalt und Bedrohung der Vogelwelt
Weltweit gibt es knapp 10.000 Vogelarten, von denen jedoch etwa 1.200 Arten stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht sind. In Deutschland kommen ca. 300 Vogelarten vor, ungefähr 220 Arten brüten auch hier.
Und nun führt Reichholf eine Zahl an, die erstaunt: Zwei Drittel dieser Brutvögel kann man im Stadtgebiet von Berlin beobachten. Berlin ist damit nicht nur Bundeshauptstadt, sondern auch Vogelhauptstadt, genau wie auch in anderen Großstädten ein ungeahnter Vogelreichtum zu beobachten ist. Statistisch betrachtet kommen in einer Großstadt drei bis fünf Vögel auf jeden Menschen. Insgesamt hat sich die Stadt in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu einem idealen Lebensraum für Vögel entwickelt – im Gegensatz zum Land, das zunehmend vogelfeindlich geworden ist.
Der schädliche Einfluss der modernen Agrartechnik
Damit ist Reichholf auch schon bei dem Thema Natur- und Vogelschutz, das einen großen Teil des Buches einnimmt. Denn heute ist es nicht mehr so, dass "auf dem Lande" unberührte Natur vorherrscht, in der Vögel ungestört leben können. Die ruhige bäuerliche Idylle gibt es heute kaum noch.
Seit den 1980er Jahren hat eine Industrialisierung der Landwirtschaft eingesetzt, die zu Monokulturen insbesondere von Mais und Raps geführt hat, wie Reichholf beklagt. Die Folge: ein starker Rückgang der Artenvielfalt, der bis heute anhält. Das Land ist nicht mehr attraktiv für Vögel.
Als genauso schädlich werden ständige Überdüngung, Güllewirtschaft und Massengeflügelhaltung identifiziert. Die größte Vogelgruppe dürften mittlerweile die immensen Hühnermengen sein, die zur Fleischgewinnung und Eierproduktion gehalten werden. Es schlüpfen zur Zeit an die 20 Milliarden Hühnchen jährlich, um ganz überwiegend zu Masthähnchen zu werden.
Begeisterung für Vögel
Doch in Reichholfs Buch geht es wahrlich nicht nur um negative Aspekte wie bedrohte Vogelarten oder zerstörte Umwelt. Viel häufiger spürt man die Begeisterung des Autors für das Lebewesen „Vogel“.
Gänse umkreisen die Achttausender des Himalajas und schnattern dabei noch laut und vernehmlich, während die meisten Menschen in dieser Höhe nur mit einem Sauerstoffgerät zurecht kommen. Pinguine, die auch zu den Vögeln zählen, können mehrere Hundert Meter tief tauchen. Das sind Tiefen, in denen der Mensch ohne spezielles Tiefsee-U-Boot längst vom Wasserdruck getötet worden wäre.
Es sind anschauliche Beispiele dieser Art, mit denen Reichholf die besonderen Fähigkeiten der Vögel verdeutlicht und sein Buch anschaulich macht. Dann wird es aber auch anspruchsvoll. Wieso sind die Vögel eigentlich zu solchen Extremleistungen fähig? Hier wird die Anatomie der Vögel ausführlich beschrieben, so dass das Buch teilweise fast Lehrbuchcharakter bekommt. Durch die verständliche Sprache sind diese Passagen zwar auch für den Laien nachvollziehbar, der Inhalt ist aber durchaus wissenschaftlich. Es ist gut vorstellbar, dass hier auch angehende Biologen oder Veterinärmediziner noch etwas lernen können.
Was der Leser aber nicht erwarten kann, ist die Beschreibung einzelner Vögel von A wie Amsel bis Z wie Zaunkönig im Stil eines Vogelführers oder Bestimmungsbuches. Natürlich werden immer wieder verschiedene Vogelarten als Beispiel herangezogen. Anspruch auf Vollständigkeit besteht dabei aber nicht. Vielmehr werden interessante Aspekte aus der Vogelwelt herausgepickt und mal länger, mal kürzer besprochen.
Wie kam der Vogel zu seinen Feder?
Breiten Raum nimmt der Abschnitt über das Gefieder ein. Dabei werden nicht nur die verschiedenen Federarten mit ihrem Aufbau und ihren Funktionen beschrieben. Untersucht wird auch, wie es überhaupt zur Entstehung der Feder gekommen ist. Schließlich sind die Vögel die einzigen Tiere, die Federn haben. Hier stellt Reichholf die verschiedenen in der Wissenschaft vertretenen Ansichten dar und präsentiert auch seine eigene Theorie.
Neben den wissenschaftlichen Ausführungen hält Reichholf aber auch praktische Hinweise für eine wohlige Nachruhe bereit. Besonders empfehlenswert seien Bettdecken, die mit den feinen Daunen der Eiderente gefüllt sind. Eine kleine Recherche bei entsprechenden Anbieter offenbart dem Interessierten aber auch schnell den praktischen Nachteil: Eiderdaunen-Decken sind extrem teuer. Dennoch: es sind diese Wechsel zwischen Theorie und Praxis, die das Buch abwechslungsreich und lesenswert machen.
Der Urvogel aus der Jurazeit
Genauso intensiv wird der Frage nachgegangen, wie und ab wann Vögel erstmals geflogen sind. Hier darf der Urvogel natürlich nicht fehlen. Die Geschichte der Vögel beginnt mit dem vielleicht berühmtesten Fossil, dem Urvogel Archaeopteryx lithographica. Dieses Fossil ist rund 150 Millionen Jahre alt und stammt aus der Jurazeit. Es wurde gefunden in Bayern bei Solnhofen, dort im Schiefergestein. Der Urvogel steht für den Evolutionssprung vom Reptil zu Vogel und ist deswegen so interessant. Die Versteinerung zeigt ein Lebewesen mit Federn und Flügel, das aber noch einen Reptilienkopf hat.
Gefunden wurde das Fossil des Urvogels im Jahr 1855. Aus diesem Fossil hat die Wissenschaft unterschiedliche Schlüsse gezogen, wie der Vogel zum Fliegen kam. Reichholf stellt die zur „Fluggeschichte" vertretenen Theorien dar und bewertet sie. Sind die ersten Flugversuche aus größeren Hüpfern entstanden? Oder waren Bäume Absprungrampen, so dass das bloße Herunterfallen nach und nach in einen Gleitflug überging? Oder nahmen die Vögel Anlauf und rannten so schnell, dass sie irgendwann abhoben? Aus der Analyse von Fossilen und der dort erkennbaren anatomischen Struktur kann man zwar einiges ableiten, aber sichere Erkenntnisse, wie denn der erste Vogelflug zustanden kam, gibt es nicht, so das Resümee.
Der Vogelzug
Während der Ursprung des Fliegen auch heute noch nicht abschließend geklärt ist, hat man über den Vogelzug mittlerweile sehr gute Kenntnisse. Dass sich die Vögel am Sonnenstand und dem Magnetfeld der Erde orientieren, wissen zumindest viele Menschen, die sich intensiver mit Vögeln beschäftigen.
Reichholf stellt dieses Thema aber so vor, dass es auch für den kundigen Leser interessante Informationen biete. Die Wissenschaftsgeschichte, wie die Geheimnisse des Vogelzuges nach und nach entschlüsselt wurden, wird anschaulich nachgezeichnet. Hinzu kommen oft unbekannte Details: Aus der Antike stammt die Vorstellung - die sich noch bis in die letzten Jahrhunderte gehalten hat - dass sich Schwalben im Herbst in Frösche verwandeln und im Schlamm der Teiche überwintern. Denn damals konnte man sich noch nicht vorstellen, dass es Wanderflüge über tausende von Kilometern gibt.
Feinde der Vögel – Reichholf bezieht Stellung
Der Jagdbetrieb ist ein Thema, mit dem sich Reichholf engagiert und äußerst kritisch auseinandersetzt. In kaum einem Fall sei die Regulierung von Vogelbeständen durch Jäger notwendig, auch nicht bei vermeintlich zu häufigen Vögeln wie Rabenkrähen. Reichholf zeigt hier durch die detaillierte Aufbereitung von Zahlenmaterial, dass die Jagd bei großen Vogelbeständen keine begrenzende Wirkung hat, während bei kleinen Beständen wie Rebhühnern die Existenz gefährdet wird. Im Wesentlichen gehe es den Jägern und die Ausübung ihres Sports, so Reichholf, der deutliche Beschränkungen der Jagd zugunsten des Vogelschutzes fordert.
Auch den staatlichen Vogel- und Naturschutz prangert Reichholf an einigen Stellen an. Oft sei das System nicht durchdacht und Regelungen sogar kontraproduktiv. So weist er zum Beispiel darauf hin, dass Vögel in Naturschutzgebieten und sogar in Vogelschutzgebieten keinesfalls absolut geschützt sind und ihre Ruhe vor Menschen haben. Vielmehr sei auch in diesen Gebieten die Jagd erlaubt, genauso wie in Wasservogelschutzgebieten geangelt werden darf. Pointiert fragt Reichholf, ob diese Schutzgebiete dann nicht vielmehr Angler und Jäger davor schützen sollen, bei ihrem Tun beobachtet zu werden.
Reichholfs Ornis – auch ein Buch mit Smalltalk-Potential
Reichholf schreibt auf der einen Seite anspruchsvoll und wissenschaftlich, genauso aber auch locker und unterhaltsam. An vielen Stellen finden sich Dinge, die sich bestens für Smalltalk und Partygespräche eignen. Hier drei Beispiele aus der Fülle seiner interessanten kleinen Geschichten:
Eine Drossel kann jeden noch so geübten Trinker locker unter den Tisch trinken. Manche Beeren, die im Herbst reifen und nach dem ersten Frost zu Trockenbeeren werden, enthalten genug Alkohol, um betrunken zu machen. Drosseln oder auch Seidenschwänze können davon so viel fressen, dass ihr Alkoholgehalt in Prozent(!) - wohlgemerkt nicht in Promille - gemessen werden kann. Statt aber an Alkoholvergiftung zu sterben, fliegen die Vögel munter davon. Das rührt daher, dass ihre Leber so viel Gegenmittel zum Alkohol erzeugt, dass die hohen Alkoholmengen extrem schnell abgebaut werden. Hieraus sollte man aber nicht voreilig den Schluss ziehen, dass man damit weiß, woher der Begriff Schnapsdrossel kommt. Das ist nämlich noch eine andere Geschichte, und die gibt es hier: Zum Ursprung der Schnapsdrossel.
Vom Trinken zum Essen: Beim Thema Nester wird es in „Ornis“ kulinarisch: Die Salanganen, nahe Verwandte unserer Mauersegler, bauen sog. Speichelnester. Die Nester heißen so, weil die Vögel ihren Speichel als Kitt verwenden, um den Nestern Festigkeit zu verleihen. In Südostasien gelten diese Nester als besondere Delikatesse für die Schwalbennestersuppe.
Oder zur Redewendung „Sich mit fremden Federn schmücken“. Dem Silberreiher wäre dies fast zum Verhängnis geworden. Beinahe wäre diese Vogelart ausgerottet worden, weil seine dekorativen Federn als Schmuck für Damenhüte früher sehr begehrt waren. Dann setzte der erste Weltkrieg dieser fröhlichen Mode jedoch ein Ende und die Bestände der Silberreiher konnten sich wieder erholen, so dass man ihn heute wieder häufiger sieht.
Fazit
“Ornis – Das Leben der Vögel“ ist ein empfehlenswertes Buch für jeden, der sich umfassend über Vögel informieren möchte und dabei über den Tellerrand hinaus schauen will. Reichholf betrachtet den Vogel ganzheitlich und bettet ihn ein in Umwelt, Politik, Gesellschaft und Geschichte. Weiter ist Ornis ein sehr fachkundiges und vor allem meinungsstarkes Buch. Reichholf vermittelt nicht nur Wissen, sondern kritisiert und fordert auch. Das macht sein Buch zu einem Werk, das aus der Fachliteratur über Vögel herausragt.
Über den Autor
Josef H. Reichholf fasziniert die Vogelwelt seit seiner Kindheit. Bereits mit 13 Jahren begann er, anhand eines Vogelbestimmungsbuches die örtliche Vogelwelt in Süddeutschland zu erforschen. Der 1945 geborene Reichholf nahm seine ersten Beobachtungen im niederbayerischen Inntal vor.
Schon bald nahm er Kontakt mit der Ornithologischen Gesellschaft in München auf und lernte von den hauptamtlichen Ornithologen. Reichholf studierte dann Biologie, Chemie, Geografie und Tropenmedizin und übernahm bereits im Alter von 29 Jahren 1974 die Leitung der Sektion Ornithologie an der Zoologischen Staatssammlung München. Hier war er dann bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2010 tätig.
Josef H. Reichholf hatte einen Lehrauftrag für Ornithologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München (Zoologisches Institut) und veröffentlichte viele Arbeiten zum Thema Vogelkunde. Weiter war er 20 Jahre Generalsekretär der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern.
Reichholf ist Autor mehrere Bücher. Neben dem 2014 erschienen Buch „Ornis – das Leben der Vögel“ hat er auch über Krähen geschrieben („Rabenschwarze Intelligenz: Was wir von Krähen lernen können“ - 2009) und zum Thema Ökologie Stellung genommen („Ende der Artenvielfalt“ – Gefährdung und Vernichtung der Biodiversität“ - 2008; „Der Tanz um das goldene Kalb: der Ökokolonialismus Europas“ – 2004). Weitere Bücher von Reichholf beschäftigen sich mit dem Thema Evolution.